Notizen zum Album Continuum des Nathan Ott Quartetts von Tom R. Schulz:
Im Anfang war der Beat. Und der Beat war bei Ott. Nathan Ott. Wie bei der Schöpfung des Universums beginnt auch die kleine, in die Zeitlichkeit geworfene Welt von Continuum, dem neuen, am 21.02.2025 erscheinenden Album des Nathan Ott Quartetts, auf einen Schlag. Kein Urknall, kein Pomp, kein Circumstance. Es ist ein federnder, dünner, präzis ausgeführter Schlag aufs Fell einer Trommel, dem unmittelbar ein zweiter auf ein Becken folgt. Und schon ist sie da, die Polarität im Mikrokosmos des Schlagzeugs: Fell und Becken. Holz plus Tierhaut versus klingendes Metall. Gleich in der ersten Sekunde ruft Nathan Ott die bestimmenden Klangfaktoren seines Instruments ins Leben. Das Kontinuum kann beginnen.
„Continuum“: Es ist ein besonderes Wort, das Nathan Ott als Titel für diese im April 2024 im Tonstudio Bauer Ludwigsburg entstandenen Aufnahmen gewählt hat. Der Begriff bezeichnet eine unbestimmte, aber lange Zeitspanne, auch die Fortdauer von etwas. Zeit vergeht ja immer ohne unser Zutun; sie klug zu nutzen ist uns aufgegeben. Im Wort Kontinuum klingt Ewigkeit an, der Gleichmut der Zeit, deren graphische, geometrische Gestalt vermutlich alles andere ist als jener tumbe Strahl aus Gestern, Heute, Morgen, auf dem wir uns mit weit aufgerissenen Augen und wehendem Haar wie einst der Graf Münchhausen auf seiner Kanonenkugel durch jene Spanne des irdischen Lebens rasen sehen, die uns von wem auch immer gewährt ist. Ins Kontinuum ist alles hineingewebt, was je gelebt hat, lebt und leben wird. Es ist Gedächtnis und Potenzial, Hort der Erinnerung und aller Möglichkeiten. Und natürlich der Zeitort des Jetzt.
Schlagzeuger haben naturgemäß ein besonderes Verhältnis zur Zeit. Sie sind die Timekeeper, die Weltenuhr der Musik. Nathan Ott, dieser so freundlich und verschmitzt schauende Musiker mit dem markanten Bart und der Statur eines Samurai, versieht das heilige Amt des Trommlers mit einer Gegenwärtigkeit und Übersicht, die ihn schon früh in seiner Karriere ins Kontinuum der Großen seiner Kunst gerückt hat. Aus Nathans Spiel klang immer ein tiefes, nicht erlernbares Wissen. Auf den eingangs beschriebenen primären Beat zu Beginn von Continuum lässt er in einem großen Atembogen erstmal ein rhapsodisches Solo folgen. Frei im Metrum, konzentriert, gelassen und neugierig auf jeden Klang, den er entstehen lässt. Nach zweieinhalb Minuten nordet er das milde Chaos dieses Weltenanfangs auf einen gemächlichen, regelmäßig getretenen Beat auf der Hi-hat ein, den die Bandkollegen auf ein Zeichen hin mit einem dreistimmig geführten, durchgängig synkopischen Thema umspielen. Komponierte Musik, augenscheinlich. Und doch eine voller Freiräume.
Das Quartett:
Obgleich ein Schlagzeuger das Ensemble anführt und die ersten drei Minuten der neuen Platte ihm ganz allein gehören: Das Album, direct-to-tape aufgenommen und also frei von Overdubs, Korrekturen, editorischem Flickwerk, ist alles andere als die Ego-Show des Trommlers. Auf Continuum sind vier gleich starke und gleich exponierte Partner zu erleben. Sie begegnen einander auf gut vorbereitetem Terrain. Komponiertes Material bleibt der Bezugsrahmen für ihren kollektiv-individuellen, schöpferischen, immer wieder auch sehr spontanen und ungezügelten Beitrag zur Gegenwartskunst Jazz, in der stets Expressiv-Unvorhersehbares passiert und passieren soll.
Die Formel für das Nathan Ott Quartett lautet seit seiner Gründung vor zehn Jahren: zwei Saxofone, Kontrabass, Schlagzeug. Kein Harmonieinstrument. Der Saxofonist Sebastian Gille, Otts Weggefährte aus gemeinsamen Hamburger Studientagen, bläst von Anfang an das eine Horn. Die unvergleichlichen Farben und die subtile Ausdruckstiefe seines Saxofon- und Klarinettenspiels gehen immer wieder neue, aufregende Legierungen mit dem etwas spröderen, raueren, kantigeren, wenn man so will: Coltraneskeren Spiel Christof Lauers ein. Fortgeschrittene Analytiker musikalischer Charaktere dürften herausfinden, wer von den beiden jeweils gerade spielt. Sowohl solistisch als auch bei zweistimmig gespielten Passagen ist das von außen nicht immer eindeutig zu bestimmen. Und keine editorische Notiz verrät, wer auf welchem Kanal zu hören ist. Man nimmt das Spiel der beiden Bläser allerdings als derart symbiotisch wahr, dass einem der Erkenntniszwang des Wer-spielt-gerade-was als Erbsenzählerei erscheint.
Die andere Saxofonstimme auf den beiden vorangegangenen Alben The Cloud Divers (2018) und Shades of Red (2020) gehörte Dave Liebman. Der legendäre Saxofonist hatte die ungewöhnliche musikalischen Expedition dieses Quartetts überhaupt erst auf den Weg gebracht, und das in dreifacher Hinsicht. Ein Konzert mit Dave Liebman in seiner Geburtsstadt Augsburg wurde für den 18-jährigen Nathan Ott zum Erweckungserlebnis in Sachen Jazz. Auf seiner intensiven Recherche nach prägenden Aufnahmen mit Liebman stieß er dann auf ein Album des Elvin Jones Quartets aus dem Jahr 1972, Live At the Lighthouse. Das entstand in genau der Instrumentierung, die wir hier hören. Im Jahr 2015 schließlich erfüllte Liebman dem jungen Schlagzeuger, der inzwischen an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg studierte, den Wunsch nach einer Projektbegegnung. Daraus erwuchsen dieses Quartett, mehrere Tourneen und zwei Alben. Seit Dave Liebman aus gesundheitlichen Gründen kaum mehr reist, hat Christof Lauer seinen Platz im Nathan Ott Quartett eingenommen.
Lauer ist fraglos ein idealer Nachfolger. Er stammt aus der Frankfurter Schule des Jazz, mit der sich Namen wie Albert Mangelsdorff und Heinz Sauer verbinden und die immer eine Spur näher dran war am mächtigen Sound des amerikanischen Jazz und seinem aus der Tradition geborenen unbändigen Willen zur Freiheit. Seiner internationalen Laufbahn setzt Christof Lauer hier ein Glanzlicht auf. Er spielt noch immer, als gehe es ihm in jedem Solo, ja, in jedem Ton, um alles, und das ist herrlich. Er ist der Shiva des deutschen Jazz: Autorität und Zertrümmerer der Autorität in einer Person.
Der Bassist Jonas Westergaard ist der Glücksfall eines strukturell denkenden Virtuosen. Er hat ein untrügliches Gespür für Balance und präsentiert sich in den mal wilden, mal weichen Wassern dieser Musik in vielen Rollen, vom Anker bis zum Kite-Surfer. Das fluide, elastische, unwahrscheinlich belastbare Gewebe dieser Band, in dem sich die autonomen melodischen Linien der beiden Bläser und vom Bass zu vielschichtigsten, flüchtigen harmonischen Gestalten verschlingen und wie Gischt vorüberziehen, hält Nathan Ott vom Schlagzeug aus ebenso souverän wie risikofreudig zusammen. Hier ist Kammermusik voller Klangsinn zu erleben, gespielt mit weit offenen Ohren für alles, was die anderen tun, und mit der rückhaltlosen Energie von Jazzmusikern, die aus dem Moment heraus (und mit einem Viertelauge auf den Noten) das Gold improvisierter Polyphonie zu spinnen vermögen. „Wie Bach, nur halt Jazz“, so hat der große Musikschreiber Wolfgang Sandner kürzlich das Wesentliche dieser Band in der FAZ beschrieben. Continuum ist eine großartige Momentaufnahme aus diesem fortlaufenden schöpferischen Prozess.
Stichpunkte zu den Kompositionen in Nathan Otts eigenen Worten:
Pentimenti sind Veränderungen, die während des Schaffensprozesses an Kunstwerken vorgenommen werden, wenn Künstler mit der Komposition, Linie oder Farbe ringen. Diese Idee zeigt Parallelen zum kompositorischen Prozess für Improvisations-Vehikel auf: Gedanken bleiben nie in Stein gemeißelt, sondern sind immer im Wandel und offen für Transformation. Meine Faszination für Pentimenti spiegelt sich in einer Suite aus drei Stücken wider, die den Auftakt des Albums bildet. Jedes Stück ist eine Neuinterpretation alter Kompositionen, die in neue Perspektiven gesetzt wurden – musikalische Pentimenti. Dazu zählen: „Lyonel“, eine Hommage an Lyonel Feininger; „Opal“, eine dreischichtige Bearbeitung einer früheren Komposition; und „David Graeber“, eine Widmung an den visionären Anthropologen und Publizisten.
„Cosmos“ experimentiert mit der seltenen Besetzung von zwei Sopransaxophonen, deren Verschmelzung einen besonderen klanglichen Reiz entfaltet. „Yunomine“ ist inspiriert von den stillen, mystischen Wäldern des Kumano-Kodo, einem Netz jahrhundertealter Pilgerwege in Japan. Dieses Stück fängt die meditative und spirituelle Stimmung dieser Landschaften ein. In „And They’ll Take What You’ve Got“, einer Komposition von Jonas Westergaard, tritt Christof Lauers expressive, oft als Coltrane-esk beschriebene Seite hervor. Seine kraftvollen Linien und das energetische Zusammenspiel offenbaren eine intensive, fast spirituelle Dynamik.
Weitere Informationen über Nathan Ott und sein neues Label An:Bruch:
https://nathanott.com/
https://an-bruch.com/
Nathan Ott
Das Album: Continuum
VÖ: 21.02.2025
Label: An:Bruch
Vertriebe: RecordJet / An:Bruch
Formate: CD, LP, digital
Katalognummer: an01bruch, an01bruch-dig
EAN CD: 4068992171296
Labelcode: 24625
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